Scheinselbständigkeit, Arbeitnehmerüberlassung und Freiheitsliebe

Gespeichert von bluthg am Sa., 28.09.2019 - 15:42

Ein Rant (auch) in eigener Sache...

Ich bin selbst seit vielen Jahren (seit 1997, um genau zu sein) als Freiberufler in der IT-Branche unterwegs.
Anfangs als haupberuflicher Trainer (ein Bereich, in dem das noch immer vollkommen normal ist), später primär als Linux-Administrator, aber auch als (SQL-/Web-/Backend-)Entwickler und mittlerweile als Datenbank-Administrator. Auch heute führe ich noch (un-)regelmäßig Trainings durch.

Und schon fast ebenso lange begleitet mich die leidige Diskussion über Scheinselbständigkeit.

Um das vorweg klarzustellen:

Ich verachte Profiteure, die über Sub-(Sub-Sub-Sub-)Kontrakte Bauarbeiter, Paketboten oder auch Lageristen oder Bauingenieure (um mal zwei Beispiele zu nennen, mit denen ich konkret Kontakt hatte) als "Selbständige" zu lächerlichen Konditionen beschäftigen (z.T. zum selben oder gar niedrigeren Stundensatz, den/als dieselbe Person zuvor in Festanstellung bei derselben Firma hatte!).

"Scheinselbständig"?

In der IT sieht die Situation aber ein wenig anders aus. FreiberuflerInnen dort sind i.A.:

  • deutlich höher qualifiziert bzw. spezialisiert als ihre internen KollegInnen
  • in Nischen / "Orchideen-Märkten" unterwegs, für die
    • in der gebotenen Know-How-Tiefe nur selten/zeitweise Bedarf besteht
    • für die entsprechend fast nie eine Festanstellung angeboten wird
  • signifikant besser bezahlt als interne KollegInnen

Die o.g. Punkte treffen auch häufig auf BeraterInnen von "Systemhäusern" (wie der Pro Open GmbH), Beratungshäusern (wie den "Big Four", Accenture etc.) oder auch Herstellen wie SAP & Co. zu.

Große Kunden wie Banken, Telcos etc. greifen sehr gerne auf externe BeraterInnen zurück. Dies aus verschiedenen Gründen, z.B.:

  • Projekte (welcher Natur auch immer) sind i.A. für einen zeitlich begrenzten Rahmen geplant, hierfür Personal einzustellen (das anschließend nicht mehr benötigt wird) ist in den seltensten Fällen sinnvoll
  • Know-How-Transfer (die internen MitarbeiterInnen sollen den/die Externen "melken" und möglichst viel Wissen/Erfahrung mitnehmen)
  • Externe BeraterInnen denken (hoffentlich!) "out-of-the-box" und sind nicht in den Zwängen und Gewohnheiten des eigenen Personals verhaftet
  • Externe BeraterInnen sind keine "heads" (und da muss man ja regelmäßig welche streichen, wenn man nicht an der Börse abgestraft werden will), sondern nur eine "Lieferung", die per Rechnung bezahlt wird
  • Kranke (und urlaubende) BeraterInnen werden nicht bezahlt (vom ersten Tag an), idealerweise muss der Vermittler zeitnah Ersatz herbeischaffen
  • Manche Auftraggeber (z.B. die öffentliche Hand) sind gar nicht in der Lage, hochqualifizierte Ressourcen am freien Markt zu finden
  • BeraterInnen können - auch kurzfristig - wieder entfernt werden, wenn die  Zusammenarbeit nicht wie erwartet funktioniert

FreiberuflerInnen sind mit den o.g. Punkten vertraut und nehmen sie bewusst in Kauf. Dafür sind die Honorare ja auch entsprechend höher; Ausnahmen (s.o.) bestätigen, dass stellenweise durchaus was faul ist.

Freiheit des Freiberufs

Eine "gute freiberufliche externe Ressource" (GFER) sieht ihre Aufgabe letztlich darin, sich selber beim Kunden überflüssig zu machen (nebenbei bemerkt habe ich in der Vergangenheit bei so manchen "BeraterInnen" das Gefühl gehabt, dass ihre Hauptaufgabe darin bestand, mehr Berater des eigenen Unternehmens nachzuziehen und diese wie sich selbst möglichst tief "einzuzecken"...).

Zudem ist eine langfristige Bindung, ein "klassisches" Berufsleben, in dem vielleicht ein- bis zweimal der Arbeitgeber gewechselt wird, nicht unbedingt die Sache der GFER. Sie ist sich ihrer Qualifikation, der Marktnachfrage und damit ihres Preises bewusst. Dass Großkunden zwecks Straffung ihrer Einkaufs-Prozesse fast nur noch über Vermittler einkaufen, die sich gerne mal 15-25% des Honorars abzweigen, ist ein unschöner, aber kaum zu umgehender Faktor.

Ja, auch ich habe zum Teil mehrere Jahre am Stück primär für einzelne Kunden gearbeitet, mit festem Arbeitsplatz & Telefonnummer, Eintrag im Mitarbeiterverzeichnis, zum Teil mit Führungsaufgaben etc. Ich kenne Freiberufler, die 20 Jahre (!) auf derselben Position beim selben Kunden saßen. Manche davon wären nach so langer Zeit "draußen im Markt" vollkommen aufgeschmissen. Dass das keine "Freelancer" mehr sind, ist wohl nicht wegzudiskutieren. Dass aber solche Situationen zustande kommen, ist aber letztlich nicht deren Schuld, sondern die der Auftraggeber, da sie den obigen Punkt "Know-How-Transfer" ganz offensichtlich vernachlässigt haben!

Auf der anderen Seite habe ich persönlich die letzten fünf Job- bzw. Auftraggeberwechsel selber initiiert, weil mir selbst früher als den Auftraggebern klar wurde, dass der Grenznutzen meines Einsatzes für beide Seiten erreicht oder schon überschritten war. Dies ist auch ein Aspekt, der GFER ausmacht.

"Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint"

Nun gibt es wie gesagt seit vielen Jahren Bestrebungen der Politik (sprich: der Deutschen Rentenversicherung* und wahrscheinlich auch anderen "interessierten Kreisen"), unter dem Deckmantel der Verhinderung prekärer, scheinselbstständiger Arbeitsverhältnisse wie Schlachthof-Mitarbeitern etc., diese hochqualifizierten und vor allem gut verdienenden Mitmenschen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse zu drückenbekommen. Ich unterstelle der Politik nicht einmal, dass es ihr nicht um diese ausgenutzten, jederzeit ersetzbaren und deshalb wirklich armen Schweine geht. Aber von Leiharbeitern "zweiter Klasse" in den großen Konzernen (z.B. VW) haben wir ja auch gehört. Dort und (nicht nur) in der IT haben wir hier einen klassischen Fall von "Das Gegenteil von gut ist nicht böse, sondern gut gemeint". Man will eigentlich Menschen per Vehikel "Leiharbeit" in gute, vernünftig bezahlte Jobs bekommen, erreicht aber, dass "fuchsige" Einkäufer ganze Teile der Belegschaft durch "Wegwerf"-Mitarbeiter ersetzen.

(* die Gerüchten zufolge selber FreiberuflerInnen langjährig anwirbt und sogar in ihre eigene betriebliche Altersversorgung aufnimmt)

Der letzte "Große Wurf" war jetzt die Verschärfung das AÜG. Der Flurschaden in der IT ist, soweit ich das beobachten kann, beachtlich. Gut eingearbeitete Know-How-TrägerInnen müssen jetzt regelmäßig für drei Monate vom Kunden abgezogen werden (was wiederum bedeutet, dass deren ArbeitgeberInnen ja mehr gleich qualifiziertes Personal hin- und herschieben müssen, statt zwei oder drei MA brauchen diese jetzt, wenn die Ressourcen ausgelastet sein sollen, sechs oder sieben). Das sorgt für Disruptionen, Kostensteigerungen etc. Und setzt kleinere Marktteilnehmer unter massiven Druck.

Gleichzeitig werden in Osteuropa Leute angeworben, die "selbständig" für 80,-€ am Tag (!) mit dem eigenen PKW (!) durch deutsche Großstädte tingeln und E-Scooter zu Ladestationen fahren, "selbständige" Paketboten schlafen weiterhin zum Teil in ihren rostigen Sprintern, asoziale Geschäftsmodelle wie das von Uber* bekommen Rückenwind aus der Politik als Alternative zu kaputtgesparten ÖPNV etc.

* bitte mal bei Vollkostenrechnng den Stundenlohn eines Uber-Fahrers, der das nicht aus Langeweile mit dem vom Chef bezahlten Firmenwagen betreibt, ausrechnen!

Und die Saat geht auf...

Zudem hat diese letzte "Reform" wohl auch viele sehr große Auftraggeber (nach völlig uneigennütziger Beratung durch "Big Four"-Anwälte...) dazu bewogen, ab 2020 gar keine externen Ressourcen mehr in Anspruch zu nehmen, die nicht in Unternehmen mit mindestens fünf sozialversicherungspflichtigen MitarbeiterInnen angestellt sind. Einige meiner freiberuflichen KollegInnen haben schon letztes Jahr eigentlich perfekt passende Aufträge nicht bekommen, weil die Auftraggeber Rechtsunsicherheit befürchteten.

Und die "üblichen Verdächtigen", die bereits jetzt vielfach einfachst Geld verdienen, indem sie als Mittelmänner bei "klassischer" Arbeitnehmerüberlassung auftreten, freuen sich jetzt also über Anfragen von FreiberuflerInnen, die ihre laufenden Projekte im neuen Jahr als Arbeitnehmer weiterführen sollen/müssen. Da so ein bisher Selbständiger ja ein extrem hohes Ausfallrisiko darstellt (Zitat: "Ich war das letzte Mal 2008 krank"), rechnen diese Spezialisten dann auch mit Abschlägen im oberen fünfstelligen Bereich (zusätzlich zu den - berechtigt - anzunehmenden 30 Tagen Urlaub und 10 Tagen Krankheit!). Fair, immerhin müssen sie ja das Projekt besorgen - oh wait!

Evtl. übersieht da auch jemand, dass GFER ihren Preis genau kennen? Und mit Wirtschaftlichkeitsrechnung vertraut sind? Oder sind das einfach die üblichen Spannen, wenn Schreibkräfte, Schlosser etc. "vermietet" werden?

 

Pro Open hat angesichts dieser Entwicklung auf jeden Fall beschlossen, FreiberuflerInnen in solch "prekären" Situationen ein Angebot zu machen. Auch wir kommen um die - letztlich zum Fenster hinausgeschmissenen Beiträge zur Rentenversicherung* natürlich nicht herum und müssen wirtschaftliche Risiken abwägen und -federn, aber der Obulus dafür ist meiner Meinung nach wirklich fair.

* mit denen wir dann deren externe Berater bezahlen? ;-)

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